Kapitel I

 Kapitel 1

Es war Freitagnachmittag und die Männer der Einheit 12 der Münchner Berufsfeuerwehr saßen am Tisch und spielten Karten. Es war bisher ein ruhiger Tag gewesen und Alex kaute lässig an einem Schokoriegel. Doch plötzlich schrillte ein durchdringender Ton durch die Feuerwache und alle sprangen von ihren Stühlen.
„Verdammt!“ Alex warf die Karten auf den Tisch. „Und ich hatte so ein gutes Blatt“. Er eilte seinem Freund Dennis hinterher zu ihren Spinden.
„Wir brauchen die kleine Einheit“, rief der Einsatzleiter. „Schwerer Verkehrsunfall mit einem PKW auf der B2 Richtung Starnberger See.“
Alex und Dennis sprangen zu ihren Kollegen auf den Wagen und dieser brauste los. Nach einer gewissen Zeit näherten sie sich der Unfallstelle und konnten schon von weitem die Wagen ihrer Kollegen von der Polizei und des Rettungsdienstes sehen. Als sie das Wrack des PKW sahen, zog sich selbst bei den Hartgesottenen der Magen zusammen.
„Oh Shit, wen sollen wir denn da noch lebend rausholen?!“
Dennis und Alex sprangen aus dem Wagen und begannen die Ausrüstung für die Bergung auszuladen.
Voll bepackt liefen auch sie schließlich auf den völlig zerstörten Wagen zu. Er musste sich mehrfach überschlagen haben. Das Dach war eingedrückt und der Motorraum fast nicht mehr vorhanden. Ringsherum lagen unzählige Glassplitter von den zersprungenen Autoscheiben und Blechteile, die während des Überschlags von der Karosserie abgerissen wurden. Sie knirschten unter den schweren Feuerwehrstiefeln. Alex´ Blick fiel auf das Nummernschild, auf welches er soeben getreten war und das nun vor seinen Füßen lag. In diesem Moment stockte ihm der Atem und sein Herz begann zu rasen.
„Stephan…“ Er ließ die Ausrüstung fallen und rannte los.

Als er am Auto angekommen war konnte er schließlich zwischen dem Notarzt und den Sanitätern einen Blick auf die Insassen erhaschen. Der Fahrer war völlig zwischen Lenkrad und Fahrersitz eingeklemmt. Es sah so aus, als habe sich sein Airbag bei dem Aufprall nicht geöffnet. Der Notarzt hatte ihm bereits eine Halskrause angelegt und war dabei ihn künstlich zu beatmen. Auf dem Beifahrersitz saß eine etwa dreißigjährige Frau mit dem Kopf an den geöffneten Airbag gedrückt. Auch sie wurde von einem zweiten Notarzt behandelt.
„Lasst mich zu ihm.“
Der Einsatzleiter sah Alex verwundert an.
„Wo ist Deine Ausrüstung?“
„Hier“, meinte Dennis, der vollbepackt hinter Alex hergeeilt war.
 „Was ist mit ihnen?“, fragte Alex mit zitternder Stimme einen der Notärzte.
„Es wird höchste Zeit, dass ihr sie hier rausbekommt. Der 2. Rettungshubschrauber ist unterwegs. Beeilt euch Jungs, es sieht nicht gut aus.“
Alex schlug die Hände vors Gesicht. Der Einsatzleiter sah ihn erneut verwundert an.
„Er ist mein Bruder“, murmelte Alex verzweifelt.

~ ~ ~




Alex schreckte hoch. Er brauchte einen Moment um sich zu orientieren. Wie jedes Mal, wenn er nach diesem Traum endlich aufwachte. Es war jedes Mal das Gleiche: Er wachte schweißgebadet auf, war im ersten Moment froh, wenn er merkte, dass er geträumt hatte, bis er dann wenige Sekunden später klar denken konnte und merkte, warum ihn dieser Traum immer wieder einholte. Weil es sich wirklich so zugetragen hatte. Zweieinhalb Jahre war dies nun her. Doch die Erinnerungen an diesen Tag waren für Alex so lebendig, als sei es erst gestern gewesen.
Alex begriff langsam auch wo er sich befand. Er war in einem Hotelzimmer auf Maui. Und im Bett neben ihm lag Stephan. Er schlief noch tief und fest. Alex beobachtete wie sich sein Brustkorb mit dem Atmen hob und senkte und er spürte wieder diese Dankbarkeit. Die Dankbarkeit, dass sein sechs Jahre älterer Bruder noch da war.
Schließlich stand Alex auf und ging ins Bad. In schwarzen Boxershorts stand er vor dem großen Badspiegel und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Immer wieder verfolgten ihn diese Bilder im Schlaf. Immer wieder durchlebte er diese schreckliche Zeit aufs Neue. Er fuhr sich mit den nassen Händen durch das kurze schwarze Haar.
Es hatte lange Zeit gebraucht, bis er seinen Beruf als Feuerwehrmann wieder normal ausüben konnte, bis er das Schrillen der Sirene in der Wache wieder ertragen konnte.
Alex ging in den Wohnbereich des Appartements, machte sich einen starken Kaffee und ging hinaus auf den Balkon, von dem er direkt auf den Pazifik hinaus sehen konnte. Es war erst 6 Uhr morgens und eigentlich hätte er seinen Urlaub einmal nutzen können um auszuschlafen, aber wie so oft hatte dies der immer wiederkehrende Traum nicht zugelassen.
Er setzte sich auf einen Stuhl, lehnte die Füße gegen das Geländer und schaute gedankenverloren auf den Ozean.
Eine Stunde verging wie im Flug, als sich die Balkontür öffnete. Alex drehte sich um und sah die Vorderräder des Rollstuhls auf der Türschwelle.
„Hey Großer, auch schon wach?“ Alex lächelte seinen Bruder liebevoll an.
„Ja, so langsam. Aber was ist denn mit dir los? Bist Du aus dem Bett gefallen?“
„Ach, ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Du weißt ja, durch meinen Beruf habe ich einen sehr leichten Schlaf.“
Stephan hatte diesen schrecklichen Unfall damals überlebt. Doch der Preis, den er dafür gezahlt hatte war hoch, denn er war seitdem von der Hüfte abwärts querschnittsgelähmt.

Die beiden Brüder saßen einen Moment schweigend nebeneinander. Es war eine gute Idee gewesen nach Hawaii zu kommen und dem Alltag einmal für eine kurze Zeit zu entfliehen. Sie würden hier einfach nur faul am Pool liegen, abends gut essen gehen und den Tag mit einer Flasche Wein oder einem Bier am Meer ausklingen lassen. Früher hätte Alex andere Dinge im Sinn gehabt, wenn er einen Urlaub wie diesen geplant hätte. Da wäre er auf die Strandschönheiten aus gewesen und hätte den Tag damit verbracht ein Date für den Abend dingfest zu machen. Aber es hatte sich viel geändert. Er hatte sich verändert. Nicht, dass er mit seinen 30 Jahren bereits zum alten Eisen gehören würde, aber er hatte genug von seinem früher oftmals eher oberflächlichen Leben, dass er noch vor genau diesen zweieinhalb Jahren geführt hatte. Aber die Veränderungen in seinem Leben waren nichts gegen die Veränderungen im Leben seines Bruders…



~ ~ ~

Die Rotorblätter des Rettungshubschraubers begannen sich zu drehen und Dennis zog Alex zur Seite. Im Hintergrund hatte ein Abschleppfahrzeug mit der Bergung von Stephans Wagen begonnen. Die Kollegen der Feuerwehreinheit verstauten die letzten Utensilien der Ausrüstung im Einsatzfahrzeug.
Dennis legte Alex eine Hand auf die Schulter. „Komm jetzt, wir fahren zurück. Ich bring Dich dann in die Klinik.“
Alex stand wie gelähmt auf dem freien Feld und starrte apathisch dem Hubschrauber hinterher, der sich langsam in die Höhe begab.
Dennis fasste Alex bei den Schultern und ging mit ihm zum Einsatzfahrzeug, wo die Kollegen bereits warteten. Die Fahrt zurück zur Feuerwache nahm er nur durch einen Schleier wahr. Er hatte das Bild von seinem Bruder vor Augen, wie sie ihn fast leblos aus dem Haufen Blech gezogen hatten und er hatte Angst, Angst, dass dies die letzten Bilder seines Bruders sein könnten, die ihm bleiben würden. Auch dass Dennis ihn anschließend in die Klinik fuhr, nahm Alex nur wie in Trance wahr. Sie erreichten schließlich den Wartebereich der Notaufnahme und Alex ließ sich auf einen der unbequemen Stühle fallen. Seine Beine zitterten noch immer und er fragte sich, wie er es überhaupt hierher geschafft hatte. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und starrte auf den hellblauen Linoleumfußboden. 
„Soll ich hier bleiben?“, fragte Dennis besorgt.
Alex sah ihn mit leerem Blick an. „Nein, ist schon okay. Ich kann jetzt sowieso nur warten.“
„Soll ich vielleicht noch jemanden anrufen? Vielleicht Eure Eltern oder Larissa?“
„Oh Gott unsere Eltern! Sie sind auf Kreuzfahrt in der Karibik. Ich hab´ keine Ahnung, wann ich sie erreiche bzw. wann sie hier sein können.“ Alex sprang panisch von seinem Stuhl auf. „Ich muss sie anrufen.“
„Willst Du nicht wenigstens warten bis Du irgendetwas weißt? Ich meine im Moment kannst Du ihnen ja noch gar nichts sagen.“
Alex ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. „Du hast Recht.“
„Ich hole Dir jetzt erst einmal einen Kaffee und versuche Larissa zu erreichen. Ich bin gleich wieder da.“
Larissa war seit knapp zwei Jahren Alex´ Freundin. Die beiden hatten sich bei einem Einsatz kennen gelernt. Alex hatte eine Brandschutzübung in einem großen Bürogebäude und dabei waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Larissa war ihm sofort aufgefallen. Sie hatte sich trotz ihres schwarzen Minirockes, der ihre einwandfreie schlanke Figur umspielte, und der aufwendig hochgesteckten blonden Haare freiwillig gemeldet aus dem 1. Stock in ein Sprungtuch zu springen und landete dabei quasi in seinen Armen. Anschließend hatten ihn ihre strahlend blauen Augen angezwinkert und gefragt, ob er sie am Abend für ihren Mut belohnen und mit ihr etwas trinken gehen würde. Von diesem Tag an waren sie auch mehr oder weniger schon ein Paar gewesen. Sie wohnten noch nicht zusammen und durch Alex´ unregelmäßige Arbeitszeiten sahen sie sich manchmal ein paar Tage gar nicht. Aber sie genossen diesen Freiraum und führten eine glückliche Beziehung.
Nach Dennis Anruf kam sie sofort in die Klinik geeilt. Sie rannte auf Alex zu und ihr blondes langes Haar hing ein wenig zerzaust an ihr herunter. Sie trug eine blaue Jeans und ein weites weißes T-Shirt, welches eigentlich nicht ihrem gewohnten Stil entsprach. Sie musste direkt von zu Hause in die Klinik gefahren sein ohne sich noch Gedanken um ihr Äußeres zu machen. Larissa sah schon von weitem die Tränen in Alex´ Augen. Larissa nahm ihn schweigend in die Arme. Dann fragte sie vorsichtig wie es aussähe.
„Er hat schwerste Verletzungen am Brustkorb und der Wirbelsäule und seine Lunge ist gequetscht. Sie haben ihn sofort in den OP gebracht.“
Er schaute Larissa durch einen Tränenschleier in die Augen. „Wir können nur warten und beten.“

~ ~ ~



Stephan hatte das gehabt, was man sich unter einem perfekten Leben vorstellte. Er war ein erfolgreicher Rechtsanwalt mit einer eigenen Kanzlei mitten in München. Er hatte Kyra, die große Liebe seines Lebens, geheiratet und mit ihr gerade ein wundervolles Haus in Grünwald gekauft. Er war Anfang 30, sehr erfolgreich und mit seinen schwarzen Haaren und den braunen Augen auch nicht gerade unattraktiv. Für die körperliche Fitness ging er jeden Morgen joggen, meistens gemeinsam mit Kyra. Nach dem Joggen frühstückten sie und fuhren anschließend in die Stadt. Er in seine Kanzlei und Kyra in ein großes Hotel, in dem sie als Managerin arbeitete. Dort hatten sie sich auch während eines Kongresses den Stephan dort besucht hatte kennengelernt. In der Mittagspause trafen sie sich zum Essen und gingen in ein kleines italienisches Restaurant oder dem Chinesen um die Ecke. Am Abend sahen sie sich dann zu Hause wieder und im Sommer saßen sie oft noch lange auf der Terrasse ihres Hauses und tranken eine Flasche Wein.
Und nun? Nun war dies alles vorbei. Von einem Moment auf den anderen war plötzlich nichts mehr so wie es einmal gewesen war. Seit jenem Freitagnachmittag, als sie sich auf den Weg zum Starnberger See gemacht hatten, um dort den Abend zu verbringen. Plötzlich tauchte vor ihnen auf der Straße dieser Van auf, der an einer absolut uneinsehbaren Stelle seinen Vordermann überholte. Stephan hatte für den Bruchteil einer Sekunde die Wahl zwischen einem Frontalzusammenstoß oder einem Ausweichen abseits der Straße. Instinktiv entschied er sich für Letzteres und so schoss ihr Wagen eine Böschung hinunter und überschlug sich mehrmals.

Mehr Erinnerungen an diesen Tag hatte Stephan nicht mehr. Er hatte anschließend über fünf Wochen im künstlichen Koma gelegen.

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